Nur bestimmte Schwellen werden noch wirklich gebraucht!

Das Bielefelder Modell – Selbstbestimmtes Leben trotz Pflegebedarf

Das Bielefelder Modell: Längst gibt es echt innovative Lösungen als Alternativen zum klassischen Konzept des Betreuten Wohnens sowie zum Pflegeheim. Dieser Fachartikel aus der Artikelreihe ambulante Betreuungskonzepte „Selbstbestimmtes Leben trotz Pflegebedarf – Teil 2: das Bielefelder Modell“ von Ulrike Jocham wurde bereits 2008 in der PFLEGEZEITSCHRIFT Ausgabe 8 veröffentlicht. Das Wohnkonzept des Bielefelder Modells ist auf eine bauseitige konsequente Schwellenfreiheit angewiesen. Werner Stede, einer der beiden Gründer, hat sich bereits 2005 dafür eingesetzt, dass Nullschwellen an allen Außentüren, selbst in den sozial geförderten Wohnungen eingebaut wurden. Ab hier geht der Artikel aus der Pflegezeitschrift 8/2008 über das Bielefelder Modell los:

Innerhalb des Bielefelder Modells wurden bereits 2005 in allen Wohnungseingangstüren und in alle Terrassen- und Balkontüren Nullschwellen eingebaut – selbst in den sozial geförderten Wohnungen. Foto: Ulrike Jocham, die Frau Nullschwelle

Ein spannendes Wohnprojekt in Bielefeld bietet eine echte Alternative zur stationären Unterbringung – erste Heimplätze stehen leer

In der letzten Ausgabe wurde die erste Hausgemeinschaft, die 1981 entstanden ist, als Mutter-WG und Keimzelle der Bielefelder Wohnprojekte geschildert. Der folgende Text beschreibt ein gelungenes Wohnprojekt in der Heinrichstraße in Bielefeld. Mittlerweile gibt es in Bielefeld zahlreiche alternative Angebote, die ein Leben mit größtmöglicher Selbstbestimmung und ein Verbleiben in der eigenen Wohnung bis zum Tod ermöglichen. Andere Städte in Deutschland schöpften aus den Erfolgen Mut und setzen das „Bielefelder Modell“ auch in ihrer Heimat um.

Entstehungsgeschichte

Die Bielefelder Gemeinnützige Wohnungsbaugesellschaft (BGW) hat bereits 1967 begonnen, Wohnungen für Senioren anzubieten, die speziell auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten waren. Als Vorreiter konnte das Unternehmen schon früh die Erfahrung sammeln, dass Barrierefreiheit allein nicht ausreicht. Die älteren Mieter benötigen unter anderem auch eine soziale Wohnqualität. Es entstand die Frage nach Rahmenbedingungen in Wohnanlagen, die einer Vereinsamung der einzelnen Mieter entgegenwirken. Weiterhin fiel der BGW der Bedarf an Serviceangeboten sowie einer Versorgungssicherheit rund um die Uhr auf. In den 80er Jahren suchte die BGW nach einem geeigneten Kooperationspartner, der ambulante Pflegedienstleistungen übernehmen sollte. Der Verein Alt und Jung, der seit den 70er Jahren sich für alternative Wohn- und Betreuungsmöglichkeiten einsetzte und seit 1981 die vorgestellte Hausgemeinschaft in der Huchzemeierstraße in Bielefeld begleitete, suchte einen Partner aus der Wohnungswirtschaft, der Wohnungen für ältere Menschen als Mieter bereitstellte. Die beiden Kooperationspartner fanden sich und entwickelten gemeinsam das „Bielefelder Modell“. Es sollte ein Konzept entstehen, das eine 24-stündige Versorgungssicherheit garantiert. Diese war jedoch bislang stets mit Pauschalen verbunden, die gezahlt werden mussten. Auch heute noch verlangen die meisten üblichen Wohnanlagen für ambulant betreutes Wohnen in der Regel eine Betreuungspauschale von rund 100 Euro oder mehr, auch wenn die älteren Menschen noch keine Pflege benötigen. Genau dieser Unkostenfaktor sollte vermieden werden.

1996 entstand an der Dahlemer Straße das erste Wohnprojekt der BGW, in dem die Mieter auf Hilfsangebote eines Servicestützpunktes vom Verein Alt und Jung zurückgreifen konnten, aber nur im Bedarfsfall dafür zahlen mussten. Zusätzlich wurde ein Wohncafe errichtet, in dem den Mietern Raum für gemeinsame Aktivitäten und gemeinsames Kochen geboten wurde. Nach anfänglichen Schwierigkeiten, vor allem seitens der Kostenträger für ambulante Assistenzleistungen, ist ein bewährtes Konzept entstanden. Seither hat die BGW weitere neun Wohnprojekte ins Leben gerufen und hierfür entweder spezielle Neubauten errichtet oder Bestandsbauten entsprechend umgebaut. Sie ermöglichen alle ein selbstbestimmtes Leben in den eigenen vier Wänden selbst bei schweren Mehrfachbehinderungen oder bei hohem Pflegebedarf – eine echte Alternative zum Heim.

Das „Bielefelder Modell“ verbreitet sich mittlerweile deutschlandweit. Viele Besucher, die unter anderem sogar aus China angelockt werden, kommen, um ihren Blick auf mögliche Veränderungen in der Pflegelandschaft zu erweitern. In Bielefeld bieten mittlerweile ebenfalls andere Wohnungsunternehmen neben der BGW ihren Mietern ein entsprechendes Angebot und außer dem Verein Alt und Jung bieten weitere Pflegedienste ihre Dienstleistungen in Wohnanlagen unterschiedlicher Wohnungsunternehmen an. Diese Entwicklung unterstützt natürlich das kontinuierliche Gedeihen ganz verschiedener Wohnprojekte, sodass eine genaue Anzahl des aktuellen Angebotes in Bielefeld nicht erhoben werden kann.

Das Wohnprojekt in der Heinrichstraße wird vom Verein Alt und Jung als Kooperationspartner der BGW begleitet. Herr Stede von der BGW wünscht sich für seine Mieter ein optimales Umfeld und eine Wohnzufriedenheit, die ein Wohnen im eigenen Reich bis zum Tod ermöglicht. Dazu gehört natürlich eine Hilfeleistung von den ambulanten Dienstleistern, die eine größtmögliche Selbstbestimmung garantiert. Die Kunden müssen beispielsweise entscheiden können, von wem sie gepflegt werden wollen. Die Wohnungswirtschaft ist im „Bielefelder Modell“ zu einer Kontrollinstanz geworden, die bei Unzufriedenheit über Hilfeleistungen ihre Mieter unterstützt und sich gegen ambulante Dienstleister vor Ort entscheiden kann. Als Kooperationspartner können jederzeit andere Anbieter eingesetzt werden.

Das multiprofessionelle Team

Im Wohnprojekt assistieren insgesamt 24 Mitarbeiter von Alt und Jung 17 Kunden. Genauso wie in der im letzten Heft vorgestellten Hausgemeinschaft arbeiten hier freiberufliche Mitarbeiter mit unterschiedlichen Qualifikationen: Hauswirtschaftskräfte, Altenpfleger, Gesundheits- und Krankenpfleger, Heilerziehungspfleger, Diplompädagogen sowie ein Psychologe. Die verschiedenen Sichtweisen der Profis ergänzen und bereichern sich gegenseitig. Für den Bereich Pflege ist eine Altenpflegerin und für den Bereich Soziales ist eine Diplom-Pädagogin als Leitung zuständig. Neben den Fachkräften sind außerdem Nichtfachkräfte im Einsatz. Dies sind beispielsweise Studenten oder Pflegehilfskräfte mit kurzen Ausbildungszeiten. Damit betriebswirtschaftlich alles seine Richtigkeit hat und die Zahlen stimmen arbeitet zusätzlich noch ein Bürokaufmann mit im Team. Aufgrund seiner körperlichen Behinderung ist er festangestellt. Neben ihm beschäftigt der Verein noch weitere festangestellte Mitarbeiter mit einer körperlichen Behinderung. Sie bringen aufgrund ihrer Behinderung ganz spezielle Ressourcen und ein entsprechendes Verständnis für die Kunden von Alt und Jung mit. Diese Fähigkeiten stellen für die Qualität der Arbeit eine beachtliche Verbesserung dar.

Die Fachkräfte bieten den Mietern in der Heinrichstraße eine 24-stündige Versorgungssicherheit. Auch die Mieter ohne Hilfebedarf wissen, es ist immer jemand da, an den ich mich wenden kann. Die BGW räumt bei jedem Wohnprojekt dem ambulanten Dienstleister als Kooperationspartner für fünf bis sechs Wohnungen ein Vorschlagsrecht ein. Durch diese Einplanung kann der Dienstleister die ständige Versorgungssicherheit Tag und Nacht garantieren und finanzieren. Bei mehr Kunden mit Assistenzbedarf werden entsprechend mehr Profis eingesetzt. Hierdurch entstehen den Mietern ohne bereits bestehenden Hilfebedarf keine Kosten für die Versorgungssicherheit und den Mietern mit Hilfebedarf entstehen keine Nachteile.

In der Heinrichstraße sind im Frühdienst zwei Mitarbeiter im Dienst. Nachmittags ist ein Mitarbeiter von 14.00 bis 20.00 Uhr und ein weiterer von 17.00 bis 22.00 Uhr anwesend. Ab 21.00 Uhr kommt die Nachtbereitschaft, die bis zum nächsten Morgen um 09.00 Uhr für die Mieter vor Ort ist. Für alle Wohnprojekte, die vom Verein Alt und Jung begleitet werden, gibt es nachts einen Hintergrunddienst, der mit einer Fachkraft besetzt ist. Zu diesem kann Kontakt aufgenommen werden, wenn es einen Notfall gibt oder eine Nicht-Fachkraft Unterstützung benötigt.

In der Wohnanlage werden zusätzlich drei Kunden mit einer schweren körperlichen Behinderung betreut, die einen so genannten „individuellen Service für Menschen mit Behinderung (ISB)“ erhalten. Jeder dieser ISB-Kunden bekommt eine gewisse Anzahl an Stunden pro Tag genehmigt, in welchen er von einer Person Assistenzleistungen erhält. Die Mitarbeiter von Alt und Jung arbeiten hierbei äußerst flexibel: Entscheidet sich ein Kunde spontan nachmittags seine Mutter zu besuchen und benötigt er für diese Zeit keinen persönlichen Assistenten, geht der eingeplante Mitarbeiter einfach früher nach Hause.

Neben den Kunden in der Wohnanlage, erhalten die Menschen in dem umliegenden Wohnungen im Stadtteil Assistenzleistungen von den Mitarbeitern von Alt und Jung. Dies führt zu einer besseren Auslastung und zu einer Vernetzung des Wohnprojektes mit dem Stadtquartier.

Die Wohnanlage Heinrichstraße

Der ansprechende Neubau in der Heinrichstraße wurde 2005 bezogen und mit Leben gefüllt. Es sind hier insgesamt 42 Wohnungen entstanden, die der Norm für barrierefreies Bauen entsprechen. 40 Wohnungen sind nach der DIN 18025 Teil 2 (barrierefrei – mit Bewegungsflächen von 120/120 Zentimeter) und zwei Wohnungen sind nach der DIN 18025 Teil 1 (rollstuhlgerecht – mit Bewegungsflächen von 150/150 Zentimeter) ausgestattet. Zu Beginn wurde darauf geachtet, dass höchstens ein Drittel der Mieter einen Hilfebedarf vorweist, um eine Konzentration von Menschen mit Pflegebedarf zu vermeiden. Für eine zusätzliche soziale Mischung sorgt das Angebot der Mietpreise, 21 Wohnungen sind öffentlich geförderte Sozialwohnungen mit einer geringeren Miete und 21 Wohnungen sind frei finanziert mit einer gängigen Marktmiete. Die Wohnungen sind zwischen 45 und 79 Quadratmeter groß. Jeder Mieter verfügt im Gegensatz zum Heim über eigene Räumlichkeiten in der Wohnung: Bad, Küche, Wohn- und Schlafzimmer, im Einzelfall ein zweites Schlafzimmer.

Das Wohnprojekt besteht aus fünf Gebäuderiegeln, wovon vier Gebäuderiegel einen Innenhof bilden. Durch den Innenhof führt ein Fußweg, der Fußgänger vom Stadtteil zum Durchgang anlockt und eine Verbindung herstellt. Die Wohnanlage soll keine abgeschlossene Einheit darstellen. Die Wohnungen in den oberen Geschossen werden über einen Laubengang, der über eine hohe Aufenthaltqualität verfügt, erschlossen. Beide Elemente, der Innenhof sowie die Laubengänge geben Raum für Gespräche und Begegnungen. Das Wohncafe ist zum Innenhof ausgerichtet, sodass bei schönem Wetter im Innenhof gemeinsam gegessen oder geplaudert werden kann. Der Eingang zum Wohncafe befindet sich im Eingangsbereich zum Wohnprojekt. Jeder der nach Hause kommt oder geht, läuft am Wohncafe vorbei. Dies ist ein weiteres Gestaltungselement, das die Kommunikation unter den Mietern fördert. Neben dem Wohncafe befindet sich das Büro von Alt und Jung, in dem die Mitarbeiter unter anderem Beratungsgespräche führen oder schriftliche Arbeiten erledigen. Das Servicebüro ist nicht nur durch das Wohncafe zugänglich, es hat einen separaten Eingang direkt an der Straße. Die Kunden, die in den benachbarten Wohnungen von den pädagogischen und pflegerischen Fachkräften Unterstützung erhalten oder erhalten möchten, können so direkt zu Alt und Jung.

Im ersten Stock befindet sich ein weiteres Wohnbüro für die Mitarbeiter, in welchem beispielsweise die Nachtwache schläft. Zusätzlich steht für Kunden mit einem erhöhtem Pflegebedarf ein Pflegebad zur Verfügung.

Aktivitäten im Wohncafe

Das Wohncafe in der Wohnanlage ist ein großer Gemeinschaftsraum, den die BGW seinen Mietern zu Verfügung stellt. Die BGW hat dort sogar für die Ausstattung der großen Gemeinschaftsküche gesorgt, die Mieter müssen sich lediglich an den Betriebskosten wie Storm, Heizkosten usw. beteiligen. Hier kann jeder der möchte am gemeinschaftlichen Frühstück, Mittagessen, Kaffeetrinken und Abendessen teilnehmen. An drei Tagen pro Woche kocht eine Mieterin das Mittagessen ehrenamtlich, eine weitere kocht an zwei Tagen pro Woche in unregelmäßigen Abständen. An einem Tag pro Woche hat eine Mieterin mit schwerer körperlicher Behinderung sich für die Zubereitung des Mittagessens bereiterklärt. Sie sagt einem Mitarbeiter von Alt und Jung die einzelnen Kochschritte ihres Gerichtes und der Mitarbeiter führt diese wie von ihr gewünscht aus. Das Frühstück und das Abendessen stellt derzeit immer ein Mitarbeiter von Alt und Jung bereit. Jedes Essen wird auf einer Liste aufgeführt und am Monatsende abgerechnet.

Weiterhin bietet das Wohncafe Platz für Feste, Kurse und andere Gruppenaktivitäten. Jeder, der sich in der Wohnung einsam fühlt findet hier eine Ansprache. Das Wohnprojekt ist nach außen hin offen, zum Mittagessen können sich beispielsweise auch die Nachbarn anmelden und zu Festen werden diese natürlich eingeladen. Jede Woche steht am Dienstagnachmittag ein Spielmobil im Gemeinschaftshof, wo alte und junge Menschen durch gemeinsame Aktivitäten zusätzlich Leben in die Wohnanlagen bringen.

Für das Projekt in der Heinrichstraße ist die BGW mit dem Deutschen Bauherrenpreis 2008 in der Sparte Neubau ausgezeichnet worden. „Der für diese Wohnanlage gefundene bauliche und organisatorische Lösungsansatz ist beispielhaft und sollte vielfach kopiert werden” lautete die Begründung der Jury für die Preisverleihung in Essen.

Text und Copyright: Ulrike Jocham

2 Comments, RSS

  1. Wenn man einmal mit eingeschränkten Menschen in der Stadt unterwegs war, dann weiß man, wie viele Hürden es gibt. Es ist toll, dass bei Neubauten die Barrierefreiheit bedacht wird. Mein Großvater ist in Zwickau auch in so einer Wohnung untergekommen. Mittlerweile klappt das ein- oder andere nicht mehr so gut. Wir überlegen, ob eine Tagespflege oder ambulante Betreuung für ihn sinnvoll sein kann.

    • Ulrike Jocham

      Vielen Dank für Ihren Kommentar! Barrierefreiheit und Universal Design wären längst möglich, wie das Bielefelder Modell zeigt. Leider beobachte ich als Bausachverständige immer noch, dass kaum tatsächlich barrierefreie Wohnungen gebaut werden, obwohl der Bedarf allein aufgrund des demographischen Wandels längst bekannt ist. Interdisziplinarität und Schnittstelenkompetenzen bereits bei der Gesetzgebung bieten jedoch neue Lösungsansätze! Wir können es längst besser!!!!!

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