Nur bestimmte Schwellen werden noch wirklich gebraucht!

Nullabsenkungen im Straßenraum

Warum echte Barrierefreiheit die Bedürfnisse aller Menschen berücksichtigen muss

Ein Beitrag von Ulrike Jocham, Frau Nullschwelle®, multiprofessionelle Bausachverständige für Barrierefreiheit und Inklusion – mit fundierter Schnittstellenkompetenz in Architektur, Pflege, Heilpädagogik und Sozialpädagogik zu Nullabsenkungen an „barrierefreien“ Querungsstellen

In der Zeitschrift Menschen Ausgabe 6/2024 ist ein Artikel von mir zum hochbrisanten Thema „zu breite Nullabsenkungen im Straßenraum an barrierefreien Querungsstellen“ erschienen. Mit einem Klick auf das Cover gelangen Sie zum pdf dieses Artikels.

In diesem Blogbeitrag gibt es eine ausführlichere Fassung meines Beitrags zu dieser aktuell sehr wichtigen Diskussion. Barrierefreiheit ist ein Menschenrecht – und sie ist vor allem eines: vielschichtig. Sie gelingt nur dann, wenn alle Perspektiven ernst genommen und die Vielfalt menschlicher Bedürfnisse in ihrer ganzen Bandbreite mitgedacht wird. Genau hier liegt die große Herausforderung – aber auch die Chance, bauliche Lösungen zu entwickeln, die niemanden ausschließen.

Ein aktueller Normenentwurf zur barrierefreien Gestaltung des öffentlichen Verkehrsraums – konkret zur E DIN 18040-3 – sorgt derzeit für erhebliche Verunsicherung. Vorgesehen ist eine mindestens 1,80 Meter breite Nullabsenkung an Querungsstellen, damit zwei Rollstuhlnutzende nebeneinander passieren können. Was auf den ersten Blick wie ein Fortschritt für Inklusion wirkt, birgt jedoch eine erhebliche Gefährdung für blinde und sehbehinderte Menschen. Denn eine so breite Nullabsenkung ist mit dem Langstock kaum noch eindeutig zu erkennen – die wichtigen taktilen Bordsteinkanten links und rechts verlieren bei dieser Distanz ihre Funktion als Orientierungshilfe. Die Gefahr, ungewollt in den fließenden Verkehr zu geraten, ist real.

Über 50 Rehabilitationslehrer:innen für Orientierung und Mobilität – hochqualifizierte Fachkräfte, die blinde Menschen darin schulen, sich sicher im öffentlichen Raum zu bewegen – sowie der renommierte Pädagoge und Forscher Dietmar Böhringer warnen deshalb mit Nachdruck vor dieser geplanten Änderung. Böhringer betont: „Eine mehr als 1 Meter breite Nullabsenkung stellt eine Lebensgefahr für blinde Menschen dar, die verhindert werden muss!“

Die grüne Linie zeigt die möglichen Bewegungsabläufe eines Langstocks von einem Mensch mit Sehbehinderung oder Vollerblindung. Wenn die Nullabsenkung zu breit ist, können die Bordsteine links und rechts nicht mehr sicher ertastet werden und es besteht die Gefahr auf die Straße zu gelangen – ohne ertasten zu können, dass die Straße bereits begonnen hat. Skizze: Ulrike Jocham, Nullschwelle®

In der Heilerziehungspflege gehört es zu den zentralen beruflichen Aufgaben, potenzielle Gefährdungen frühzeitig zu erkennen und insbesondere Lebensgefahren konsequent zu vermeiden. Diese Verantwortung ist nicht verhandelbar – sie steht an oberster Stelle. Umso schwerer wiegt es, wenn bauliche Entscheidungen getroffen werden, die dieses Prinzip missachten oder ohne den Einbezug qualifizierter Fachdisziplinen erfolgen. Die Einschätzung realer Gefährdungslagen – wie sie hier für blinde Menschen vorliegt – erfordert nicht nur technisches Verständnis, sondern tiefgehendes Wissen über Wahrnehmung, Behinderungsbilder, Unterstützungsbedarfe sowie heil-, sozialpädagogische und pflegerische Zusammenhänge. Technische Machbarkeit allein – oder die Sichtweise Einzelner als Expert:innen in eigener Sache – kann diese Sicherheit nicht gewährleisten.

Die aktuell gültige DIN 18040-3 enthält bereits einen bewährten Kompromiss: Eine maximal 1 Meter breite Nullabsenkung, flankiert von mindestens 6 cm hohen Bordsteinkanten, ermöglicht Rollstuhlnutzenden eine sichere Querung und bleibt zugleich für blinde Menschen taktil wahrnehmbar. Damit wird ein zentrales Ziel der UN-Behindertenrechtskonvention erfüllt: die gleichberechtigte, sichere und selbstbestimmte Teilhabe aller Menschen.

Die aktuellen Forderungen nach einer mindestens 1,80 Meter breiten Nullabsenkung stammen überwiegend aus technisch geprägten Einzelperspektiven – insbesondere aus dem Bauwesen und von rollstuhlnutzenden Expert:innen in eigener Sache. Auch wenn diese Stimmen ihre Bedarfe berechtigterweise vertreten, werden dabei andere Perspektiven häufig ausgeblendet. Dabei wird übersehen, dass barrierefreies Bauen kein rein technisches Thema ist – sondern ein hochkomplexes, multiprofessionelles Feld, das unterschiedliche Fachrichtungen und Schnittstellenkompetenz erfordert. Eine inklusive Gestaltung des öffentlichen Raums braucht mehr als technische Lösungen – sie braucht das Wissen und die Erfahrung aus Pflege, Heilpädagogik und Sozialpädagogik ebenso wie das architektonische Know-how.

Als multiprofessionelle Bausachverständige für Barrierefreiheit und Inklusion vereine ich fundiertes Wissen aus Architektur, rechtlich-normativen Anforderungen, Pflege, Heilpädagogik und Sozialpädagogik. Diese Schnittstellenkompetenz befähigt mich, technische Umsetzbarkeit, gesetzliche Rahmenbedingungen, menschliche Bedarfe und sozial-pflegerische Anforderungen gleichermaßen zu verstehen, zu vermitteln und lösungsorientiert zu integrieren. Während Architekt:innen die bauliche Seite im Blick haben, bringe ich zusätzlich ein tiefes Verständnis für individuelle Lebensrealitäten ein – auch für Menschen mit intensivem Unterstützungsbedarf.

Barrierefreiheit ist ein hochkomplexes Schnittstellenthema. Sie erfordert interdisziplinäre Zusammenarbeit und die Bereitschaft, über den eigenen Tellerrand hinauszuschauen. Echte Inklusion gelingt nur im Dialog – im respektvollen Miteinander der Professionen und in der Anerkennung der Perspektiven unterschiedlichster Behinderungsbilder. Denn auch wenn einzelne Gruppen – wie Rollstuhlnutzende – wichtige Expert:innen in eigener Sache sind, müssen ihre Sichtweisen mit denen anderer Betroffener in Einklang gebracht werden.

Barrierefreiheit ist kein Entweder-oder, sondern ein Sowohl-als-auch. Kein starrer Zustand, sondern ein lebendiger, dynamischer Prozess. Ein Prozess, der mit fachlicher Tiefe, gegenseitigem Respekt und multiprofessioneller Zusammenarbeit gestaltet wird. Nur so entstehen Lösungen, die gerecht, sicher und zukunftsfähig sind – für alle.

Die Nullabsenkung ist ein zentrales Element in diesem Prozess – und sie zeigt exemplarisch, wie wichtig ein ganzheitlicher Blick ist. Eine maximal 1 Meter breite Nullabsenkung ist für alle nutzbar – für Menschen im Rollstuhl ebenso wie für blinde und sehbehinderte Menschen. Sie steht damit nicht nur für Sicherheit im Straßenraum, sondern auch für gelebte Inklusion und einen verantwortungsvollen Umgang mit der Vielfalt unserer Gesellschaft.

Ulrike Jocham, Frau Nullschwelle®

Your email address will not be published. Required fields are marked *

*