Lernen von Vorreitern – Nullschwellen müssen schon längst Standard sein
Nullschwellen gehören zu einer unverzichtbaren Ausstattung in Pflegeimmobilien. Ein aktueller Artikel aus dem Seniorenheim-Magazin Ausgabe 2/2020 zeigt innovative Best-Practice-Beispiele von der BeneVit-Gruppe. Wir können es längst besser!
Lernen von Vorreitern – Nullschwellen müssen schon längst Standard sein
„In allen unseren Pflegeheimen und anderen Wohnformen befinden sich seit 2007 an allen Außentüren Nullschwellen“, berichtet Claudia Kanz, die Leiterin der Bauabteilung von der BeneVit Gruppe im baden-württembergischen Mössingen. „Selbst die Terrassen- und Balkontüren weisen mit der von uns verwendeten Magnet-Nullschwelle keine Stolperkante auf“, so Claudia Kanz. Mittlerweile kann BeneVit konsequente Schwellenfreiheit in insgesamt 24 Pflegeheimen in 5 Bundesländern vorweisen. Dies ist mehr als außergewöhnlich, denn bis heute werden den meisten Immobiliennutzern- und -investoren, schwellenlose Außentüren vorenthalten, auch wenn sie diese wünschen. Das erlebe ich seit über 15 Jahren immer und immer wieder. Innerhalb des barrierefreien Bauens werden statt den geforderten Nullschwellen, in der Regel bis heute 1 – 2 cm hohe Türanschlagdichtungen verbaut. Und beim konventionellen Bauen erfahren die wenigsten Bauherren, von den längst möglichen niveaugleichen Übergängen und erhalten stattdessen insbesondere bei den Terrassen- und Balkontüren zwischen 5 – 15 cm hohe Türschwellen. Technisch möglich sind Nullschwellen ohne störenden und gefährlichen Türanschlag an Hauseingängen und an Terrassen- und Balkontüren schon seit über 24 Jahren. (siehe Literaturlink, L1) Bereits 1996 wurde die erste Nullschwelle mit Magnet-Dichtungen auf dem Markt eingeführt. Insbesondere in Pflegeimmobilen müssten derartig vorhandene Lösungen längst überall anzutreffen sein, denn jede überflüssige Türschwelle stellt eine Gefahr für Leib und Leben dar. „Die Magnet-Nullschwelle zeigt uns seit 13 Jahren, dass es auch ohne sturzgefährdenden Türanschlag geht“, betont die Leiterin der Bauabteilung von BeneVit.
Fehlende Schnittstellenkompetenz
Je länger ich mich für die längst mögliche Nutzung von Nullschwellen an Außentüren einsetze, umso mehr fällt mir auf, dass die notwendige Schnittstelle u.a. zwischen den Ministerien für Bau und den Ministerien für Pflege und Soziales nicht besetzt ist. Wenn ich mit Pflegeexperten spreche, merke ich sofort, dass diese die Bedeutung und die Vorteile von Nullschwellen an Außentüren nachvollziehen können. Dieses Verständnis erlebe ich bei Vertretern aus der Baubranche oder bei Verwaltungsfachleuten eher selten. Trotzdem wird zumeist aus Professionen wie Architektur und Verwaltungswesen entschieden, wie gebaut wird.
Speziell in Baden-Württemberg wurden seit 2013 insbesondere die zuständigen Ministerien und Landtagsabgeordneten für barrierefreies Bauen von mir intensiv über den professionsübergreifenden Langzeitschaden, der von 1 – 2 cm hohen Türschwellen in Außentüren ausgeht, informiert. Allein bei der Entstehung des Nullschwellen-Runderlasses habe ich zahlreiche interdisziplinäre Schreiben verfasst, die zusätzlich aus der Selbsthilfe unterstützt wurden (L2). Trotzdem hat die Ministerialdirigentin Kristin Keßler aus dem Wirtschaftsministerium Baden-Württemberg am 04.10.17 ein erstaunliches Schreiben verfasst, in dem sie ohne jeglichen Beleg behauptet, dass betreute Wohnungen (Betreutes Wohnen) lediglich nach § 35 Abs. 1 LBO BW gebaut werden müssten (L3 und L4). Damit behauptet sie, dass kein einziger Balkon und keine einzige Terrasse in diesen Wohnungen barrierefrei gestaltet werden müssten. Mit dieser widerlegbaren Aussage (L5) fördert die Ministerialdirigentin ohne mit Fachwissen zu belegen und den landeseigenen Nullschwellen-Runderlass (L6) umzusetzen, den weiteren gefährlichen Bau von 1 – 2 cm hohen Türschwellen. Wenn ich Pflegekräften, pflegende Angehörigen und Experten in eigener Sache dieses Schreiben zeige, stoße ich auf breites Unverständnis für so ein Handeln. Ein Blick in den § 39 Abs. 1 LBO und in den Kommentar vom Boorberg Verlag (7. Auflage) zum § 39 genügt. Allein in diesen beiden Quellen steht eindeutig, dass betreute Seniorenwohnungen barrierefrei auszuführen sind. (L6) In einer aktuellen Antwort formuliert selbst die Techniker Krankenkasse die klar geforderte Barrierefreiheit durch den § 39 (nicht § 35) im Betreuten Wohnen: „Für das Land Baden-Württemberg greift hier der § 39 der Landesbauverordnung in Verbindung mit DIN 18040.“ Das bedeutet, dass in BW barrierefreie Nullschwellen als Zugänge zu den Freisitzen vorgeschrieben sind. Wo bleibt die Verantwortung von Keßler gegenüber älteren und behinderten Menschen und gegenüber Bauverantwortlichen, die dringend auf einen klaren Informationsfluss seitens der obersten Baurechtsbehörde angewiesen sind?
Stürze können lebensbedrohlich sein
Die-BeneVit-Einrichtungsleitung Vera Maria Mahr vom Haus am Weinberg im hessischen Oestrich-Winkel freut sich über die Nullschwellen in ihrem Haus. Bei ihrem vorherigen Arbeitgeber gab es die 1 – 2 cm hohen Türschwellen, die den Zugang zu den Freisitzen für die älteren Menschen verbauten. „Viele Nutzer von Rollstühlen haben nicht mehr ausreichend Kraft, um den Rollstuhl mit den Vorderrädern anzuheben oder mit Schwung über das Hindernis zu kommen. Damit sie trotzdem selbstständig über diese Barriere gelangen konnten, haben einige herausgefunden, dass es rückwärts mit den großen Rädern etwas leichter geht. Dabei ist allerdings leider passiert, dass zwei Personen mit dem ganzen Rollstuhl nach hinten gekippt und auf den Kopf gefallen sind“, berichtet die erfahrene Einrichtungsleitung und weist auch auf die immense Sturzgefahr durch technisch überflüssige 1 – 2 cm hohe Türschwellen hin. „Ältere Menschen bleiben schnell mal mit dem Fuß an diesen Hindernissen hängen und stürzen. Jeder Sturz kann schlimme Gesundheitsschäden und sogar den Tod zur Folge haben“, erklärt die erfahrene Einrichtungsleitung. Deshalb seien tatsächlich barrierefreie Zugänge in Pflegeimmobilien unverzichtbar.
Es geht schon längst besser
Der Geschäftsführer Kaspar Pfister und seine Tochter Claudia Kanz haben bereits 2006 mit dem Rollstuhl die hinderlichen 1 – 2 cm hohen Schwellen ausprobiert und festgestellt, dass diese für ältere Menschen gebrauchsuntauglich sind. „Auch ich habe es nicht geschafft im Rollstuhl sitzend über diese Barriere zu fahren“, berichtet Claudia Kanz. Damit hat BeneVit als einer der wenigen, vielleicht sogar als einziges Altenhilfe-Unternehmen in Baden-Württemberg, schon vor 13 Jahren begonnen, Nullschwellen in ihre Außentüren einzubauen. Soviel schwellenfreie Pflegeimmobilien wie aktuell bei BeneVit können die wenigsten Mitbewerber vorweisen, vielleicht sogar kein einziger. „Zuhause ist dort, wo ich das sagen habe“, erklärt Claudia Kanz. Dazu gehöre auch, selbstbestimmt und ohne fremde Hilfe auf den Balkon zu gelangen. Kaspar Pfister ist ursprünglich Verwaltungswirt. „Wir haben gelernt, dass der mündige Bürger im Zentrum steht, die Verwaltung ist der Dienstleister. Genau das ist auch unser Ziel bei BeneVit. Der mündige Bewohner steht im Zentrum, wir sind Dienstleister“, erklärt Pfister.
Staatlich geförderter Türschwellenbau
Staatliche Zuschüsse hat BeneVit für die Umsetzung des sturzpräventiven Nullschwellen-Standards nicht bekommen. Erstaunlicherweise förderte das Wirtschaftsministerium jedoch einen Mitbewerber mit rund 4,4 Mio. zinslosem Darlehen für den Bau von 32 Seniorenwohnungen (Eröffnung 2017), die gefährliche und unzulässige 1 – 2 cm hohe Balkon-Türschwellen aufweisen. (L7) Diese können aufgrund der Gebrauchsuntauglichkeit für ältere Menschen die nächsten Jahre u.a. auf Kosten der Pflegeversicherung zurückgebaut werden.
Finanzierung von Rückbauen unzulässiger Türschwellen
In einem gemeinsamen Rundschreiben des GKV-Spitzenverbandes und der Verbände der Pflegekassen auf Bundesebene vom 21.04.20 wird in einem Katalog zum § 40 SGB XI (wohnumfeldverbessernde Maßnahmen, bis zu 4.000 Euro) unter dem Punkt „Maßnahmen innerhalb der Wohnung“ der Abbau von Türschwellen z.B. auch zum Balkon aufgeführt. Das bedeutet, dass u.a. die vom Wirtschaftsministerium geförderten Türschwellen-Einbauten auf Kosten der Pflegeversicherung zurückgebaut werden können, wenn die Nutzer einen Pflegegrad haben und die 1 – 2 cm hohen Türschwellen nicht passieren können. Die Wahrscheinlichkeit, dass dies eintrifft, ist im Betreuten Wohnen vorhersehbar und sehr hoch. Unzählig weitere Türschwellen-Rückbauten kommen die nächsten Jahre in BW und bundesweit noch auf die Pflegekassen zu. Die seit 1996 unzählig verbauten Türschwellen, die Rückbauten erforderlich machen, sind allerspätestens seit der Nullschwellen-Stellungnahme (L9) bundesweit innerhalb des barrierefreien Bauens technisch unbegründbar und daher unzulässig. Hier stimmt etwas ganz grundsätzlich nicht.
Wo bleibt das Handeln des Wirtschaftsministeriums
Für die Pflegekassen, die Immobilieninvestoren und die Bürger werden die anstehenden Türschwellen-Rückbauten kostenintensiv. Ganze Türen müssen komplett ausgetauscht und ganze Fußbodenhöhen angeglichen werden. Selbst in ganz neuen barrierefreien Wohnungen werden 1 – 2 cm hohe Türschwellen eingebaut, die gleich nach dem Einbau auf Kosten der Pflegeversicherungen zurückgebaut werden müssen. (L10)
Nutzung von vorhandenen Lösungen
Der Geschäftsführer der Glaserei Bernhard Strauß aus dem baden-württembergischen Freiburg wundert sich ebenfalls, dass eine langzeitbewährte Technik zur Sturzprävention, so wenig genutzt wurde und wird. „Die Magnet-Nullschwelle ist genial! Die Langzeitbewährung von über 2 Jahrzehnten und zahlreiche Einbauberichte bieten uns Fensterbauern Sicherheit für die Dichtheit. Zusätzlich gibt es enorm viele Prüfzeugnisse von verschiedenen akkreditierten Prüfinstituten. Bei soviel technischer Sicherheit, verstehe ich nicht, weshalb heute immer noch selbst in Heimen 1 – 2 cm hohe Türanschlagdichtungen verbaut werden“, erklärt der erfahrene Fensterbauer Bernhard Strauß.
Keine anderen Ministerien bundesweit wurden so intensiv über Nullschwellen informiert, wie das Verkehrs- und das Wirtschaftsministerium in BW. (u.a. L2) Wann werden die Verantwortlichen handeln? Eine neue interdisziplinäre Besetzung mit Schnittstellenkompetenzen könnte Lösungen bieten. „Innovationen entstehen heute vorwiegend fächerübergreifend an den Schnittstellen traditioneller Fächergrenzen. Die Probleme dieser Welt kümmern sich nämlich nicht um traditionelle Organisationsstrukturen von Disziplinen und Fakultäten.“ (Fachbuch Interdisziplinarität vom WBG Verlag, L11)
Lernen von Vorreitern – Text: Ulrike Jocham
Über die Autorin: Ulrike Jocham, Frau Nullschwelle® ist interdisziplinäre Bausachverständige für Nullschwellen und Barrierefreiheit: www.die-Frau-Nullschwelle.de
Lernen von Vorreitern – die dazugehörende Literaturverweise L1 – L11 zum Artikel gibt es hier!
Lernen von Vorreitern aus dem Seniorenheim-Magazin 2/2020 gibt es als pdf zum Download: Beitrag Ulrike Jocham_Lernen von Vorreitern
Wir suchen eine Seniorenresidenz für meine Mutter. Durch den Artikel habe ich gelesen, dass man durchaus vorhandene Lösungen besser nutzen sollte. Ich werde ich hierzu noch genauer einlesen, wobei eine Residenz mir lieber wäre.