Nur bestimmte Schwellen werden noch wirklich gebraucht!

Inklusive Architektur – Chancen für die Baukultur

Das Cover von faktor arbeitsschutz, Ausgabe 4/2016, in dem der Artikel Inklusive Architektur - Chancen für die Baukultur von Ulrike Jocham erschienen istInklusive Architektur – Chancen für die Baukultur ist ein Artikel von der interdisziplinären Bausachverständigen Ulrike Jocham über das mögliche Qualitätssteigerungspotential durch die Berücksichtigung aller Nutzerzielgruppen und aller Behinderungsarten gleichzeitig. Der Fachartikel ist in der DGUV-Zeitschrift für Fach- und Führungskräfte faktor arbeitsschutz Ausgabe 4/2016 erschienen.

Das pdf des Artikels gibt es durch einen Klick auf das Cover von faktor arbeitsschutz oder direkt ab hier in diesem Blogbeitrag:

Inklusive Architektur – Chancen für die Baukultur

Der Einbau einer Raumspartür im Hort der Stuttgarter Torwiesenschule sorgt unter anderem für mehr Sicherheit, Benutzerfreundlichkeit und Barrierefreiheit. Dieses Beispiel zeigt auch, welche Herausforderungen bei der Umsetzung einer inklusiven Architektur zu bewältigen sind.

Nach außen aufschlagende Türen bergen ernste Verletzungsgefahren, insbesonde- re für Menschen mit Sehbehinderung oder Vollerblindung sowie für Kinder. Des- halb machen die DGUV Regel 102–002 „Kindertageseinrichtungen“ und die DGUV Vorschrift 81 „Schulen“ klare Vor- gaben: Türen zu Räumen sind so anzuord- nen, dass Kinder durch aufschlagende Türflügel nicht gefährdet werden. Obwohl diese Vorschriften schon seit mehreren Jahren bestehen, werden in vielen Bil- dungseinrichtungen immer noch Stan- dard-Drehflügeltüren eingebaut, die genau diese Unfallgefahren mit sich bringen. Beispiele sind Türen zu barrierefreien WCs oder Pflegebädern.

Nach der DIN 18040, der Norm für barrierefreies Bauen, dürfen diese Türen nicht in den Sanitärbereich aufschlagen. Seit rund 25 Jahren werden inklusive Lösungen angeboten, die sowohl der Unfallverhütung als auch der Barrierefreiheit gerecht werden. Leider findet man diese zu selten in der Praxis. Die Diakonie Stetten ist in ihrem Hort in der Torwiesenschule in Stuttgart mit gutem Beispiel vorangegangen. Sie hat eine Standardtür, mit der das Pflegebad verschlossen wurde und die zu einem engen Flur hin aufschlug, durch eine Raumspartür ersetzt.

Sicherheit und Nutzbarkeit für alle

Die Stuttgarter Torwiesenschule ist eine Grund-, Real- und Sonderschule. In jedem Jahrgang gibt es eine Regelschulklasse sowie eine Sonderschulklasse für Kinder mit dem Förderschwerpunkt „Geistige Entwicklung“. Einige Kinder mit Lern- schwierigkeiten haben zusätzlich verschiedene körperliche Einschränkungen. Ein Mädchen, das derzeit die zweite Klasse besucht, leistet Pionierarbeit: Sie ist das erste Kind, das mit einer körperlichen Behinderung die Regelschulklasse besucht. In den Hort, in dem sich auch das Pflegebad befindet, gehen derzeit insgesamt 70 Schülerinnen und Schüler, zehn davon besuchen die Sonderschule. „Die bisherige Drehflügeltür zum Pflegebad war für alle Kinder sehr gefährlich. Die Kinder mit Assistenzbedarf haben sie oft ruckartig aufgestoßen“, schildert die erfahrene Sozialpädagogin Carolin Kaufmann. Dieser plötzlich aufschlagende, breite Türflügel habe eine enorme und unerwartete Gefahr für alle Kinder dargestellt, die sich in dem engen Flur vor dem Pflegebad aufgehalten haben. Die neue Raumspartür ginge viel leichter auf, erfordere viel weniger Platz im Flur und sehe außerdem schick aus, sagt die Pädagogin und betont: „Die Unfallgefahr ist nun bestmöglich minimiert. Endlich kommt jeder auch an der offenen Tür vorbei.“ Selbst bei einer vollständig geöffneten Tür ragen nur noch 35 Zentimeter des gesamten Türflügels in den Flur hinein.

Zuvor war das ganz anders: Stand die Tür in einem Winkel von 90 Grad offen, blieb nur noch rund ein halber Meter Platz zwischen Türflügel und Wand. Ein Vorbeikommen gestaltete sich also äußerst schwierig. „Die Drehflügeltür war nicht nur gefährlich, sondern auch extrem lästig“, erinnert sich Hortleiterin Christa Hummel. An so engen Stellen eine Drehflügeltür zu öffnen oder zu schließen, sei für Kinder, die einen Walker, Rollstuhl oder Gehstützen benutzen sowie für die Assistentinnen und Assistenten äußerst mühevoll. „Werden dazu notwendigen Rangiervorgang einmal selbst ausprobiert hat, kann die volle Dimension von Behinderungen nachvollziehen“, sagt Christa Hummel. Schiebetüren wären ihrer Einschätzung nach nicht geeignet gewesen, da die meisten Kinder große Schwierigkeiten haben, diese zu benutzen. „Die Raumspartür hingegen ist nun sehr einfach zu bedienen und äußert leichtgängig. So können behinderte und nicht behinderte Personen die Tür gut öffnen und schließen sowie das Pflegebad betreten und wieder verlassen.“

Gestaltung für alle

Mehr Sicherheit, Benutzerfreundlichkeit und Barrierefreiheit sind nicht die einzigen Pluspunkte der neuen Raumspartür. Sie bietet auch ein sogenanntes Universelles Design. Dieses Gestaltungskonzept ist in der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung (UN-BRK) festgeschrieben. Es beschreibt ein Design, das möglichst von jeder Person ein- fach zu benutzen ist und den Alltag von allen vereinfacht. Dieser Aspekt fällt auch der achtjährigen Pionierin aus der Regelschule auf: „Die neue Tür ist super und babyleicht zu öffnen!“

Kritischer Blick auf die DIN 18040

Warum werden Türen als üblicher Standard in Behinderten-WCs und Pflegebädern genehmigt, die nicht den Unfallverhütungsvorschriften entsprechen? Hier lohnt sich ein kritischer Blick auf die DIN 18040. Aus Sicherheitsgründen ver- bietet diese Norm, dass Drehflügeltüren in Sanitärräume aufschlagen. So soll ein Blockieren mit am Boden liegenden Ver- letzten vermieden werden. Die Norm geht aber nicht darauf ein, dass dann die Türflügel nach außen aufschlagen müssen und dies durch den Unfallschutz verboten ist. Auch übergeordnete Gesetze und Verordnungen – darunter die EU-Bauproduktenverordnung, die Musterbauordnung und verschiedene Landesbauordnungen – schreiben sichere Gebäude vor. Schließlich fordert die UN-BRK eine Nutzbarkeit, zum Beispiel von Produkten, durch möglichst alle Menschen. Niemand darf aufgrund von mangelndem Universal Design benachteiligt oder sogar ausgeschlossen werden.

Die Vorgaben der UN-BRK stehen über allen Normen und Richtlinien, die entsprechend angepasst werden müssen. (siehe UN-BRK Artikel 4f) Widersprüche zur UN-BRK finden sich jedoch in der DIN 18040. Neben Aufprallgefahren durch Drehflügeltüren gehören zum Beispiel auch Sturzgefahren durch Schwellen dazu. Das Beispiel der Raumspartür, die in der Stuttgarter Torwiesenschule eingesetzt wurde, zeigt jedoch, dass längst universell designte Lösungen zur Verfügung stehen.

Inklusive Architektur – eine Herausforderung

Wenn es um barrierefreies Bauen geht, verweisen bundesweit Fachleute aus allen Disziplinen auf die DIN 18040. Doch welche Fachleute sind eigentlich an der Entstehung dieser Norm beteiligt? Dass es im Arbeitsausschuss der DIN 18040 an Interessenvertretungen für Menschen mit Kleinwuchs oder kognitiven Einschränkungen sowie älteren Menschen fehle, hat Dr. Volker Sieger, stellvertretender Obmann dieses Gremiums, bereits im Jahr 2014 erklärt. Die Entstehung von inklusiven Kitas, Schulen und Horten benötigt hingegen das breite Wissen von möglichst vielen Fachleuten.

So müssten zum Beispiel auch pädagogische Fachkräfte viel stärker in die Planung einbezogen werden, findet Hortleiterin Christa Hummel. „Wir haben die Erfahrung, was die Kinder im Alltag benötigen.“ Nicht nur das praktische Wissen kann also die Architektur verbessern, sondern auch theoretische Konzepte wie Partizipation, Adressatenorientierung und Empowerment. Mit letzterem sind Strategien und Maßnahmen gemeint, die Menschen dabei helfen, ein selbstbestimmtes und unabhängiges Leben zu führen und ihre Belange eigenständig zu vertreten.

Inklusive Architektur – Neuer Handlungsbedarf für Architekten

„Ein Planer kommt immer nur weiter, wenn er seine Planung nicht nur verteidigt, sondern schaut, was er bei nachfolgenden Projekten besser machen könnte“, resümiert Martin Gönner, Architekt und Leiter der Abteilung Bau und Technik der Diakonie Stetten. Bei der Planung von inklusiven Bildungseinrichtungen ist das Entwicklungspotenzial für Architekten noch groß. Beim Thema Türen gibt es weiteren Handlungsbedarf: Während die DIN 18040 eine gute Wahrnehmbarkeit von Türen verlangt, fordert der Unfallschutz bei Türen in Kitas zusätzlich einen Fingerschutz. Auch für diese Anforderungen sind bereits technische Innovationen vorhanden. Diese bieten für Kinder einen kontrastreichen, vollintegrierten und nachhaltigen Fingerschutz an Haupt- und Nebenschließkanten.

Interdisziplinarität und Schnittstellenkompetenzen sind gefragt!

Eine inklusive Architektur bietet durch Beteiligungskultur und Berücksichtigung aller Behinderungsarten und aller Nutzerzielgruppen hochspannende Potentiale für mehr Sicherheit, Ergonomie, Funktionalität und Gestaltungsqualität.

Ein Artikel von Ulrike Jocham, der interdisziplinären Bausachverständigen für Barrierefreiheit, Universal Design, Inklusion und Nullschwellen

 

Linktipps:

• DGUV Vorschrift 81 „Schulen“ (bisher GUV-V S1) vom Mai 2001; Download unter www.dguv.de/publikationen

• DGUV Regel 102–002 „Kindertageseinrichtungen“ (bisher BG/GUV-SR S 2) vom April 2009; Download unter www.dguv.de/publikationen

• DIN 18040, Teile 1–3 „Barrierefreies Bauen“; Bezug unter www.beuth.de

 

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