Grundlose und teure Inklusionshindernisse könnten ganz einfach abgeschafft werden. Doch statt dessen schreiben wir eine schadenerzeugende unendliche Geschichte von bis zu zwei Zentimeter hohen Türschwellen. Lesen Sie mehr dazu in meinem Artikel, der 2017 in behinderte menschen mit dem Titelthema „Die andere Seite von Demenz“ erschienen ist.
„Ich hänge an der Decke und koche, du musst kommen und mich abkratzen!“ Mit dieser Beschreibung bringt der erfahrene Verbandsfunktionär Willi Rudolf seine Fas- sungslosigkeit zum Ausdruck. Der selbst betroffene Experte in Behindertenfragen beschreibt seine aktuellen Erlebnisse in ei- ner ganz neuen Wohnanlage des Betreuten Wohnens für ältere Menschen in Baden- Württemberg: „Sogar in der Musterwoh- nung dieses Neubaus ist die Türschwelle zur Terrasse 2,2 cm hoch.“ Als Begründung habe er die übliche Antwort erhalten: Das sei wegen des Wassers. Doch Rudolf kennt die technischen Lösungen schon lange und hat selbst in seinem eigenen Haus Nullschwellen, die ohne Probleme seit vielen Jahren funktionieren. Trotz vorhandener baurechtlicher Vorschriften werden diese Planungsfehler im Neubau allerdings bis heute in der Regel nicht beanstandet, dafür aber Unmögliches im Altbau gefordert. „Wir planen eine dringend benötigte Tagespflege in einem bestehenden Gebäude und haben für den Umbau bereits über 35.000 Euro investiert“, berichtet Gerda Mahmens, die 1. Vorsitzende von Zuhause leben e.V. aus Stuttgart. „Auch die Pflegekasse und das Sozialamt befürworten unser Vorhaben. Trotzdem verzögert die Baurechtsbehörde die Eröffnung seit über fünf Monaten“, so Mahmens. In den Bauzeichnungen sei von Anfang an wegen einer vorhandenen zehn Zentimeter hohen Stufe eine mobile Rampe eingezeichnet gewesen, aber das Baurechtsamt wolle nun eine feste Rampe vor der Eingangstür, für die kein Platz da sei.
Lernpotenzial für eine bessere Architektur
Im Altbau ist eine einwandfreie Barrierefreiheit häufig gar nicht mehr möglich, die Versorgung von Menschen mit Pflege- und Assistenzbedarf muss dennoch stattfinden können. Bei Neubauten sieht dies anders aus – eine Nutzbarkeit für möglichst viele mit dem geringsten Kostenaufwand ist möglich. Schwellenfreie Türen können sogar alle Menschen benutzen. Doch, statt diese unabdingbaren Potenziale für inklusive Gebäude und Wohnungen zu nutzen, werden bis heute Außentüren mit ein bis zwei Zentimeter hohen Schwellen verbaut – Sturzgefahren, Hindernisse und Exklusionen, die nur extrem aufwändig und teuer wieder abgebaut werden können.
Der rechtliche Eiertanz
Gründe für den inklusionsschädlichen Schwellenbau sind in DIN-Normen zu finden, sogar in der Norm für barrierefreies Bauen, der DIN 18040. Obwohl Nullschwellen beim Erscheinungsdatum technisch längst gelöst waren, beschreibt diese Norm einen Schwellen-Sonderfall, der missverständlicherweise bis heute im barrierefreien Bauen als ein bis zwei Zentimeter hoher Standard anzutreffen ist. Wie konnte das passieren?
„behinderte menschen“ klärt auf
Bereits 2013 hat die Zeitschrift „behinderte menschen“ in der Ausgabe 4/5 eine Stellungnahme vom Arbeitsausschuss der DIN 18040 öffentlich gemacht, die besagt, dass nur eine null Zentimeter hohe Schwelle barrierefrei ist. Werden trotzdem Türschwel- len von bis zu zwei Zentimeter eingebaut, müssen das Sachverständige als technisch notwendig bezeugen (Jocham 2013: 77). Technische Lösungen ohne Schwelle gibt es seit über 15 Jahren. Doch die seit rund vier Jahren vorhandene Klarstellung des Ar- beitsausschusses der DIN 18040 findet kaum Beachtung. Hier nur ein paar Einblicke: Am 28.11.16 wurde auf der Regionalkonferenz SÜD zum Thema „INKLUSIV GESTALTEN“ von der Bayerischen Architektenkammer z. B. das Mehrgenerationenwohnen „Wohnen am Römertor“ aus Augsburg als ein Best-Practice-Projekt vorgestellt – und das, obwohl bei den Terrassen- und Balkontüren bis zu zwei Zentimeter hohe Schwellen vorhanden sind! Die Architektenkammer Niedersachsen (AKNDS) publiziert noch bis zum Februar 2017 in ihren Hinweisen zum „Barrierefreien Bauen nach DIN 18040“ Folgendes: „Türen (…) „müssen schwellenlos mit einer maximalen Höhendifferenz von 2 cm ausgebildet sein.“
Nur durch Aufklärungsarbeit der Autorin des oben erwähnten Artikels in der Zeitschrift „behinderte menschen“ wurden längst notwendige Nullschwellen-Forderungen in diesen Hinweisen der AKNDS aufgenommen, allerdings ohne Quellenangabe. Und selbst Bausachverständige, die als Autoren das im September 2016 erschienene Fachbuch „Balkone, Loggien und Terrassen“ verfasst haben, führen weder diese Stellungnahme noch ein bedeutendes Schreiben vom Ministerium für Verkehr und Infrastruktur in Baden-Württemberg vom 16.12.14 an, das unter anderem Nullschwellen in allen neuen Betreuten Wohnanlagen auch zu den Balkonen und Terrassen vorschreibt (Jocham 2017: 95). „Die Stellungnahme vom Arbeitsausschuss der DIN 18040 aus dem Jahr 2013 und das Schreiben des MVI BW vom 16.12.14 müssen offensiver verbreitet werden und als Maßstab für die Bauträger dienen. Bei Nicht-Einhaltung dieser Maßstäbe muss es für den entsprechenden Bauträger ‚wehtun’“, fordert Antonio Florio, 1. Vorsitzender von „Selbstbestimmt leben im Landkreis Ludwigsburg e.V..
Zur Veröffentlichung in der Fachzeitschrift behinderte menschen geht es hier: inklusiv-wohnen.de/…s/ulrike jocham-grundloseInklusionshindernisse.pdf
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