Es muss die echte Nullschwelle sein, ist ein Artikel von Ulrike Jocham, der in der Glaswelt 10/2017 erschienen ist. Lesen Sie hier den Artikel:
Wer braucht schon Schwellen an denen nur der Schmutz und man selber daran hängen bleibt?! Für alle sind Nullschwellen ergonomischer, ästhetischer und schlichtweg besser. Doch für viele Menschen mit Behinderung und Senioren sind Nullschwellen unabdingbar. Als Heilerziehungspflegerin mit Weiterbildung in Sozialraumentwicklung und Forschung setze ich mich seit über 25 Jahren für Inklusion ein und beachte dabei auch die Sichtweisen der Professionen Pflege und Pädagogik, die beide mehr als dringend konsequente Schwellenfreiheit verlangen. Eine ausreichend sturzpräventive und inklusive Architektur ist nur mit Nullschwellen möglich. Als Dipl.-Ing. in Architektur recherchiere und forsche ich bereits seit über 12 Jahren disziplinübergreifend zum Thema Nullschwelle. Seit über 20 Jahren sind Nullschwellen an Außentüren technisch gelöst. Bis zu 2 cm hohe Türschwellen stellen ein K.-o.-Kriterium hinsichtlich Inklusion dar, sie gefährden, grenzen aus und benachteiligen. Lassen Sie sich von verschiedenen Perspektiven von Experten in eigener Sache und Pflegeprofis bereichern:

Brigitte Seiferheld freut sich: „Über die Magnet-Doppeldichtung komme ich mit meiner Tetraplegie völlig selbstständig!“ Das Ehepaar Brigitte und Frieder Seiferheld konnten bereits über 21 Jahre Erfahrungen mit Magnet-Nullschwellen sammeln: „Wir haben 1996 in unsere vorherige Wohnung in Freiberg am Neckar die schwellenfreie Magnet-Doppeldichtung zur Gartenterrasse einbauen lassen und sie funktioniert bis heute ausgezeichnet. Auch in der neuen Wohnung in Ludwigsburg haben 2010 unsere Terrassentüren diese Nullschwelle erhalten“, berichtet Frieder Seiferheld. Die Dichtung sei absolut dicht, er habe die Tür sogar mit einem Gartenschlauch gereinigt und es sei kein Tropfen Wasser durchgedrungen. „Doch die absenkbare Außentürdichtung, die an unserer Wohnungseingangstüre eingebaut wurde, ist nicht dicht, da kommt kalte Luft rein“, berichtet Frieder Seiferheld.
Foto: Ulrike Jocham
Die Rollstuhlnutzer-Perspektive
„1 – 2 cm Schwellenhöhe finde ich untragbar“, erklärt Brigitte Seiferheld als Expertin in eigener Sache mit einer über 52-jährigen Rollstuhlerfahrung sowie erfolgreiche Beraterin für Barrierefreiheit und betont, dass bereits 0,5 cm Schwellenaufkantungen ihr Probleme bereiten würden. „Die meisten Rollstuhlnutzer mit höheren Lähmungen auch im Oberkörper haben Schwierigkeiten, diese kleinen Schwellen zu überwinden“, erklärt die mit der Bürgermedaille der Stadt Ludwigsburg ausgezeichnete Expertin. Ihr Mann Frieder Seiferheld, Schatzmeister der Fördergemeinschaft der Querschnittsgelähmten in Deutschland e.V., schätzt sogar, dass nur 1 Prozent aller Rollstuhlnutzer problemlos über 1 – 2 cm Türschwellen kommen und ergänzt diese Zielgruppe mit einer weiteren Beispielperspektive: „Gerade sprach ich am Telefon mit einer Dame mit Querschnittlähmung, die auch schon 50 Jahre im Rollstuhl hinter sich hat. Sie zählte früher zu den topfitten Rollstuhlfahrerinnen, für die ein Bordstein kein Hindernis darstellte. Heute aber ist die Schulter kaputt, verschlissen durch die dauernde Überanstrengung. Sie sagte mir, wenn da irgendwo ein Streichholz liegt, käme sie nicht mehr darüber.“ Allerdings müsse neben den Menschen auch die Rollstühle genau betrachtet werden. „Die wenigsten Senioren haben einen sportlichen Flitzer, die meisten sitzen in einem ‚altersgerechten Ruhestuhl’, der sich wesentlich schlechter rangieren, kippen und fahren lässt“, so Frieder Seiferheld und erklärt weiter: „Bei diesen Rollstühlen, die zumeist in erster Linie der möglichen Haftungsfreistellung des Pflegepersonals dienen als der Selbstständigkeit des Rollstuhlfahrers, findet man oft auch noch Kippschutzeinrichtungen, die jegliche eigenständige Fahrmanöver erfolgreich verhindern. Wenn jemand über eine Schwelle ‚hüpfen’ will, muss er auf den Hinterrädern balancieren können. Mit Kippstütze ist diese Stellung unerreichbar.“ Es könne nicht davon ausgegangen werden, dass Senioren, deren Anzahl kontinuierlich zunehme, zu derartig sportlichen Höchstleistungen neigten. Deshalb fordern beide Seiferhelds: „Wir benötigen dringend in allen Gebäuden und Wohnungen Nullschwellen!“
Inklusion
„Inklusion bedeutet die volle Teilhabe am Leben für jeden Menschen, ganz unabhängig vom jeweiligen Assistenz- oder Unterstützungsbedarf“, erklärt Antonio Florio, der Vorsitzende von Selbstbestimmt Leben im Landkreis Ludwigsburg e.V., Inklusionsaktivist und Experte in eigener Sache. Florio beschreibt hier ein Menschenrecht, das allen Menschen mit Behinderung einschließlich derjenigen die intensivere Assistenz und Unterstützung benötigen, zusteht. (siehe Gesetz zu dem Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderung veröffentlicht im Bundesgesetzblatt Dezember 2008).„Weil die meisten Nutzer von Rollstühlen wegen der bis heute üblichen 1 – 2 cm hohen Türschwellen nicht selbstständig auf den Balkon kommen, ist das unnötige Ausgrenzung und Benachteiligung, also das Gegenteil von Inklusion“, erklärt Antonio Florio und betont: „Aus welchem Grund werden denn dann Balkone so überhaupt gebaut? Was machen diese in derartig verbauter Weise eigentlich grundsätzlich für einen Sinn und weshalb sollen Menschen mit Behinderung für solche Balkone dann auch noch bezahlen?“
Der Pflege-Blick: Pflegeheime und betreute Wohnanlagen
„In der Pflege ist alles andere als 0 cm Schwachsinn“, betont der Geschäftsführer der Stiftung Espachstift aus Kaufbeuren Markus Poppler. „Für alle, die Schwierigkeiten haben, dies nachvollziehen zu können, empfehle ich einen Alterssimulationsanzug auszuprobieren oder einfach mal verstärkt ältere Menschen beim Laufen zu beobachten. Bei ganz vielen ist ein typisch schleifender Gang festzustellen, vor allem bei Hochbetagten. So wird schnell klar, dass auch schon 1 Zentimeter Schwellenhöhe im Boden absolut gefährlich sind“, erklärt Ernst Schönhaar, der Kuratoriumsvorsitzende der Stiftung Espachstift. Bereits seit über 16 Jahren erreicht dieser Altenhilfeträger bei allen seinen Neubauten mit der schwellenfreien Magnet-Doppeldichtung konsequente Schwellenfreiheit und damit optimale Sturzprävention in der Architektur. Ernst Schönhaar freut sich über die Innovationskraft seiner Stiftung: „Die Mehrkosten für unseren Nullschwellen-Standard haben sich schon mehrfach gelohnt, weil er von den Bewohnern als wohltuend erlebt, mittlerweile als selbstverständlich betrachtet und die Schwellenfreiheit für alle mit jedem Jahr wichtiger werden.“
Die BeneVit Gruppe aus Mössingen verwendet ebenfalls seit 10 Jahren diese Nullschwellen-Technik für alle ihre Pflegeheime: „Mittlerweile haben wir 23 Pflegeheime in 5 Bundesländern mit der schwellenfreien Magnet-Doppeldichtung ausgestattet, das 24. wird gerade gebaut“, berichtet Claudia Kanz, die Leiterin der Bauabteilung von BeneVit. Der Geschäftsführer Kaspar Pfister und seine Tochter Claudia Kanz probierten persönlich mit dem Rollstuhl die bis zu 2 cm hohen Schwellen aus. „Auch ich habe es nicht geschafft im Rollstuhl sitzend über diese Barriere zu fahren“, berichtet Claudia Kanz.
Ambulante Pflege zu Hause
Nullschwellen sind nicht nur in Pflegeheimen und betreuten Wohnanlagen insbesondere für ältere Menschen allein aus Sicherheitsgründen unverzichtbar, sondern auch im ganz konventionellen Wohnungsbau. „Genau wie Ulrike Jocham unterstützen auch wir eine schwellenlose Architektur“, erklärt Ralf Schibrowski, der Geschäftsführer und Bausachverständige für barrierefreien Bau und Umbau vom GPS-Pflegedienst aus Bad Dürrenberg und fordert klar: „Türschwellen in jeglichen Höhen sind grundsätzlich zu vermeiden!“ Eine 93-jährige Klientin seines Pflegedienstes habe wegen 2 – 4 cm hohen Schwellen innerhalb ihrer Wohnung insgesamt 2 Oberschenkelhalsbrüche erlitten. „Die körperlichen und seelischen Schmerzen dieser Brüche konnten kaum gemildert werden. Nur durch intensive Pflegebetreuung von Angehörigen und Professionellen ist diese Dame wieder willens geworden weiter Leben zu wollen“, berichtet Ralf Schibrowski. Seine Tochter, die Pflegemanagerin Nadine Schibrowski unterstreicht die Bedeutung von Schwellenfreiheit mit einem weiteren Blick auf die Arbeitsbedingungen in der Pflege: „Auch für die Pflegekräfte sind Nullschwellen beim Klienten in der eigenen Häuslichkeit arbeitserleichternd. Oft haben Schwestern und Pfleger bis zu 30 Personen in einer Tour zu versorgen und körperlich anspruchsvolle Tätigkeiten zu verrichten. Schwellen, ob in Duschen, in Türen oder im Außenbereich beim Spazierengehen sind kräftezehrend. Die Attraktivität des Pflegeberufes wird unnötig weiter herabgesetzt ganz zu schweigen vom Thema Arbeitssicherheit“, betont Nadine Schibrowski. Deshalb fordern beide Pflegeexperten: „Es wäre absolut wünschenswert, wenn alle Beteiligten eines Bauvorhabens vor Baubeginn darüber nachdenken, welchen Schaden sie anderen tatsächlich mit ihrer Konzeption zufügen. Machen wir alle endlich Schluss damit!“
Nullschwellen im Geschosswohnungsbau sind für alle besser
Für Manfred Kemter, Behindertenbeauftragter im Schwarzwald-Baarkreis, ist klar: „Wenn man von barrierefrei spricht, muss es auch eine Nullschwelle sein. Es gibt Menschen mit einer Behinderung, die die 2 cm-Schwelle überwinden können, aber ebenso gibt es Personen, die es nur schwer oder eben nicht schaffen, über 2 cm Hindernisse zu gelangen.“ Gerade das Öffnen bzw. Schließen von Türen berge bei vorhandenen Schwellen oft Probleme: „Wenn man sich, um eine Türe öffnen bzw. schließen zu können, gerade an der Stelle befindet, an welcher die Schwelle überfahren werden muss, ist dies für manche Personen nicht machbar. Es ist z.B. nicht möglich, sich mit beiden Händen am Rollator fest zu halten und gleichzeitig den Türgriff zu fassen. Allein nur dieses Beispiel zeigt die Notwendigkeit einer Nullschwelle“, erklärt Kemter, der als Behindertenbeauftragter mit einer über 20-jährigen Berufserfahrung im Ehrenamt und im Hauptamt eine Zunahme des Mitspracherechts bei Bauvorhaben von immer mehr kommunalen und städtischen Behindertenbeauftragten beobachten kann. „Da wir jedoch alle älter werden, sind schwellenfreie Außentüren grundsätzlich für alle besser. Im Alter können viele z.B. ihren Fuß nicht mehr richtig heben. Deshalb empfehle ich in allen Neubauten überall Nullschwellen umzusetzen. Bei meiner letzten Begleitung eines Geschosswohnungsbaus ist es mir gelungen, in allen Wohnungen zielgruppenübergreifend auch die Freisitze mit einer 2 cm hohen Schwelle zu erschließen. Bei der nächsten Wohnanlage möchte ich überall Nullschwellen erreichen“, so Kemter.
Text: Ulrike Jocham, die Frau Nullschwelle
Auszeichnungswürdig: Die Stiftung Espachstift war wahrscheinlich bundesweit der erste Träger von Pflegeheimen und Betreuten Wohnanlagen, der sturzsichere Nullschwellen zu den Freisitzen ermöglichte! Die BeneVit-Gruppe ist vermutlich der erste Pflegeheimbetreiber in Baden-Württemberg gewesen, der Nullschwellen-Qualität auch zu den Terrassen und Balkonen umsetzte, und seit 2007 vielleicht sogar die meisten Nullschwellen-Einrichtungen mit Freisitzen bundesweit vorweisen kann. Falls jemand doch schneller und besser war, der möge sich bitte bei der Autorin melden!
Neben den Landesbauordnungen, die auch zum Ziel haben, Gefahren für Leib und Leben abzuwenden, fordern weitere Gesetze und Vorschriften Nullschwellen:
- 2009: UN-BRK (Artikel 2 und 4f), Universal Design, 1 – 2 cm hohe Schwellen gehören nicht dazu
- 2011: BauPVO, sichere Gebäude ohne Sturzgefahren
- 2013: Nullschwellen-Stellungnahme vom Arbeitsausschuss der DIN 18040, nur 0 ist barrierefrei
- 2014: Nullschwellen-Runderlass vom MVI BW vom 16.12.14