Nur bestimmte Schwellen werden noch wirklich gebraucht!

Ein besonderes Arbeitsfeld

Cover_Dr. med Mabuse_ein besonderes ArbeitsfeldEin besonderes Arbeitsfeld in der Pflege und Pädagogik – ambulante Pflege und Assistenz in alternativen Wohn- und Betreuungsprojekten

Ein Artikel von Ulrike Jocham aus der Fachzeitschrift Dr. med. Mabuse, Ausgabe November/Dezember 2010

Die Zahl von alternativen Wohn- und Betreuungsprojekten für ältere Menschen nimmt zu. Innerhalb dieser Modelle finden Pflegekräfte und Sozialarbeiter ein interessantes Arbeitsfeld vor. Ulrike Jocham hat ein Nachahmerprojekt des Bielefelder Modells in München besucht und berichtet darüber.

Bereits vor rund 20 Jahren wurde in Bielefeld ein alternatives Wohnkonzept entwickelt, das ein Zusammenleben von Menschen mit und ohne Assistenzbedarf in Wohnprojekten mit Quartiersbezug ermöglicht. Quartiersbezogenes Wohnen ist auf eine kleinräumige Vernetzung und Integration unterschiedlicher Wohn- und Betreuungsangebote ausgerichtet. Heute gibt es in Bielefeld zahlreiche Wohnprojekte nach dieser Grundidee.

Konzept des Bielefelder Modells

In speziell neu geplanten oder in bestehenden Häusern werden zwischen fünf bis zehn Wohnungen an Menschen mit erhöhtem Hilfebedarf (u. a. Menschen mit körperlichen, sog. geistigen, psychischen und/oder seelischen Behinderungen, SeniorInnen) vermietet. Diese Wohnungen liegen nicht direkt nebeneinander, sondern sind im Quartier verteilt.

Wichtig bei der Wohnungsvergabe an Menschen mit hohem Assistenzbedarf ist die sehr gute Erreichbarkeit des Nachbarschaftstreffpunktes und Herzstücks eines Wohnprojektes: des Wohncafés. Hier sind alle aus dem Quartier willkommen. Nach dem Motto „Hilfe zur Selbsthilfe“ entstehen Strukturen, die das Engagement aller BürgerInnen vor Ort fördern. Menschen aus dem Quartier bereiten dort Mahlzeiten zu, an welchen alle aus dem Quartier zu einem geringen Selbstkostenbeitrag teilnehmen können.

Durch die Integration von fünf bis zehn Per- sonen mit hohem Hilfebedarf ist der Beginn einer Rund-um-die-Uhr-Versorgung durch eine Fachkraft im Schichtbetrieb für alle aus dem Quartier möglich. Bei Bedarf kann sich jeder an diese Fachkraft wenden. Für diese Versorgung muss keine Betreuungspauschale entrichtet werden, wie sie beispielsweise im klassisch betreuten Wohnen der Altenhilfe oftmals anfällt. Sobald Sachleistungen für Pflege, Eingliederungshilfe oder andere Dienstleistungen ausgeführt werden, werden sie wie üblich im ambulanten Bereich abgerechnet.

Aufgrund der Verschmelzung der Alten- mit der Behindertenhilfe entstehen multiprofessionelle Teams, die im Bereich der Altenhilfe noch relativ neu sind. Professionelle aus dem Bereich Pflege arbeiten eng zusammen mit Professionellen aus dem Bereich Pädagogik. Durch die Auseinandersetzung mit anderen Schwerpunkten und Sichtweisen führt dies zur kontinuierlichen Weiterentwicklung der eigenen Arbeit.

Foto: Ulrike Jocham

Projektstandort München

Die demografische Entwicklung spielt bereits heute für die Wohnungswirtschaft eine erhebliche Rolle: Auch die GEWOFAG, ein städtisches Wohnungs- unternehmen in München mit einem Bestand von über 34.000 Wohnungen, wollte auf die steigende Anzahl von älteren MieterInnen mit Hilfebedarf reagieren. Im Dezember 2007 eröffnete das Wohnungsunternehmen in München-Ramersdorf ein erstes Wohnprojekt nach dem Vorbild des Bielefelder Modells. Der Arbeiter-Samariter-Bund Regionalverband München/Oberbayern ist hier für die Versorgung der Menschen zu- ständig. Die Finanzkraft der GEWOFAG gibt dem Projekt ein stabiles Fundament.

In einem zweiten Wohnprojekt in München-Harlaching arbeitet die GEWOFAG mit dem Förderverein der Sozialstation Berg am Laim/Trudering zusammen. Beide Wohnprojekte laufen unter dem Namen „Wohnen im Viertel“. Aufgrund der großen Nachfrage plant die GEWOFAG, insgesamt 13 Wohnprojekte im Stadtgebiet umzusetzen. Sie hat eine Fachstelle „Wohnen im Alter“ eingerichtet und die Psychologin Renate Salzmann-Zöbeley als Koordinatorin eingesetzt.

Der Förderverein der Sozialstation Berg am Laim/Trudering ist Träger eines Alten- und Servicezentrums in München-Berg am Laim sowie der Sozialstation Berg am Laim/Trudering, die vorwiegend in der ambulanten Altenhilfe tätig ist. Für das neue Tätigkeitsgebiet im Wohnprojekt in München-Harlaching wurde vor dem Projektstart eine weitere eigenständige Sozialstation gegründet.

Bielefelder Modell in München - ein besonderes Arbeitsfeld

Foto: Ulrike Jocham

Wohnprojekt Rotbuchenstraße

Der Mittelpunkt des Wohnprojektes in München-Harlaching befindet sich in der Rotbuchenstraße 46. In einer ehemaligen Zwei-Zimmer-Wohnung sind dort das Büro des multiprofessionellen Teams der Sozialstation und das Wohncafé untergebracht.

In der Rotbuchenstraße hat die GE- WOFAG einen Bestand von rund 400 Wohneinheiten, direkt in der Rotbuchenstraße 46 befinden sich 21 Wohnungen. Im Umkreis von 800 Metern gibt es circa 1.400 Wohnungen des Wohnungsunternehmens. Ein Teil der Bestände in der Rotbuchenstraße war 1986 als Altenwohnanlage konzipiert und schwellenfrei ausgestattet worden.

Alle MieterInnen der GEWOFAG und auch alle anderen QuartiersbewohnerInnen im Umkreis von 800 Metern um das Wohncafé können sich bei Be- darf rund um die Uhr an eine Fachkraft der Sozialstation wenden. Im Wohncafé mit direkt angrenzender Küche kann derzeit jeder, der möchte, zweimal wöchentlich an einem Mittagessen und einmal pro Woche an einem Weißwurstfrühstück teilnehmen. Der Raum bietet bis zu 15 Personen Platz. Für die Organisation im Wohncafé ist eine Koordinatorin eingesetzt. Diese erhält beim Kochen ehrenamtliche Unterstützung von der Hausmeisterin und einem jungen Mieter aus dem Haus sowie von einigen regel- mäßigen Besucherinnen des Wohncafés.

Im Quartier gibt es auch eine Pflegewohnung auf  Zeit, die bereit steht, wenn pflegende Angehörige in den Urlaub fahren oder aus anderen Gründen ausfallen oder wenn BürgerInnen aus dem Krankenhaus entlassen werden und in der Übergangszeit Assistenz benötigen. Weiterhin können Wohnungssuchende mit Assistenzbedarf die Wohnung nutzen, bis sie eine geeignete Wohnung gefunden haben. Die Wohnung ist zu circa 80 Prozent im Jahr ausgelastet.

Start und Entwicklung des Wohnprojektes

Damit der soziale Dienst die 24-stündige Versorgungssicherheit finanzieren kann, wurde ihm ein Vorschlagsrecht bei der Vermietung von zehn Projektwohnungen eingeräumt. Zu Beginn des Wohnprojektes, im Juni 2008, standen acht Wohnungen frei. Eine Wohnung wurde für das Wohncafé und das Büro benötigt, eine weitere für die Pflegewohnung auf Zeit. Für die restlichen sechs Wohnungen konnte der Förderverein der Sozialstation Berg am Laim/Trudering MieterInnen mit erhöhtem Hilfebedarf vorschlagen. Weitere vier Wohnungen wurden dem Projekt nach und nach zugeschlagen, sobald eine Wohnung frei wurde. Die zehn schwellenfreien Projektwohnungen befinden sich in der Nähe des Wohncafés, aber in verschiedenen Häusern.

Am 2. Juni 2008 starteten drei MitarbeiterInnen in der Rotbuchenstraße 46: die Altenpflegerin Slavica Bilajac als Leitung für den Bereich Pflege, die Sozialarbeiterin Brita Maier-Broszeit als Leitung für den Bereich Soziales und ein Gesundheits- und Krankenpfleger. Bereits Ende Juni 2008 hatte das neue Team eine Größe von acht MitarbeiterInnen. Heute arbeiten zwei AltenpflegerIn- nen und zwei Gesundheits- und KrankenpflegerInnen, eine Sozialarbeiterin, eine Koordinatorin für das Wohncafé sowie fünf 400-Euro-Kräfte, unter anderem Studierende, im Team des Wohnprojektes. Die Pflegefachkräfte sind in zwei Schichten tätig, von 6.30 bis 14.45 Uhr und von 14.30 bis 22.45 Uhr. Von den fünf Hilfskräften übernimmt jeweils ein Mitarbeiter die Nachtbereitschaft. Die Pflegefachkräfte decken mit den beiden Früh- und Spätschichten sowie einer Rufbereitschaft in der Nacht die 24-stündige Versorgungssicherheit ab.

Der Förderverein der Sozialstation Berg am Laim/Trudering war zu Beginn des Wohnprojektes völlig neu im Stadtteil. Der Einzug von Menschen mit erhöhtem Assistenzbedarf in die Projektwohnungen finanzierte deshalb den Start und machte die Einstellung der ersten MitarbeiterInnen möglich. Inzwischen versorgt das Team 20 Menschen im Alter zwischen 30 und 95 Jahren. Die meisten benötigen aufgrund von altersbedingten Erkrankungen Assistenzleistungen bei der Grundpflege, im Haushalt, bei der Einstufung in eine Pflegestufe – oder beim Lesen eines Briefes.

Neben der klassischen Zielgruppe der ambulanten Altenhilfe wurden in das Wohnprojekt ein Bewohner mit einer geistigen und ein weiterer mit einer seelischen Behinderung integriert, zwei weitere, die psychosoziale Unterstützung erhalten, ziehen gerade neu ein. Die Eingliederungshilfeleistungen aus dem Bereich der Behindertenhilfe und die Leistungen aus der Pflegeversicherung werden dabei von dem multiprofessio- nellen Team erbracht.

Ein besonderes Arbeitsfeld

Kontakte fördern: Die MitarbeiterInnen der Sozialstation und des Wohncafés fördern maßgeblich den Kontakt und die gegenseitige Unterstützung unter den MieterInnen. MieterInnen, die jahrelang nebeneinander her gelebt haben, holen sich heute ge- genseitig ab, um gemeinsam das Wohncafé zu besuchen, oder helfen einander, die Terrassen und Balkone in Ordnung zu bringen.

Mehr Zeit für die Betreuung: Durch die 24-stündige Präsenz ist es den Fachkräften möglich, ganz individuell auf die Bedürfnisse der Hilfsbedürftigen einzugehen. So können die Besuche und die Versorgung einer Diabetikerin dann erfolgen, wenn sie in ihren Tagesrhythmus passen. Fahrten mit dem Auto, die normalerweise in der ambulanten Altenhilfe nötig sind, entfallen. Diese Zeit bleibt für die Menschen.

Interdisziplinäres Arbeiten: Die KundInnen des multiprofessionellen Teams erhalten auch bei Behördenangelegenheiten Unterstützung, wenn beispielsweise eine GEZ-Befreiung, eine Grundsicherung oder ein Schwerbehindertenausweis beantragt werden muss. Ein weiterer wichtiger Unterschied im Vergleich zur klassischen ambulanten Altenhilfe ist die interdisziplinäre Zusammenarbeit mit den Fachkräften aus dem Bereich Pädagogik.

Slavica Bilajac, die Pflegedienstleiterin, erzählt: „Wir helfen und unterstüt- zen die QuartiersbewohnerInnen in al- len Lebenslagen. Wir organisieren für unsere KundInnen Möbel oder helfen bei der Vorbereitung von privaten Fes- ten, verschieben hierfür die Möbel und helfen bei der Dekoration. Der komplet- te Hilfebedarf auch außerhalb der vorgesehenen Leistungskomplexe wird von uns wahrgenommen. Bei uns steht der Mensch im Mittelpunkt.“ Im „Wohnen im Viertel“ wird nicht nur etwas für die KundInnen der Sozialstation getan, alle MieterInnen erhalten die benötigte Unterstützung.

Neue Gestaltungschancen: Slavica Bilajac und auch die Leiterin für den Bereich Soziales, Brita Maier-Broszeit, waren bereits bei der Planung des Wohnprojektes dabei. Vor dem Start hospitierten sie beide in Bielefeld und lernten dort einige Wohnprojekte kennen. Slavica Bilajac berichtet: „Danach haben wir das Konzept und dessen Chancen erst richtig verstanden.“ Sie kennt aus ihrem Heimatland Kroatien ein Miteinander, in dem man zusammen lebt und sich gegenseitig hilft. Sie ist überzeugt: „Das Modell bietet neue Gestaltungschancen für das, was in unserer Leistungsgesellschaft verloren ge- gangen ist.“ Ihr ist die ganzheitliche Beratung und Pflege der PatientInnen ein besonderes Anliegen: „Hier im Wohnprojekt habe ich Zeit für die Menschen mit Hilfebedarf und kann auf individuelle Wünsche eingehen.“

Förderung der Gemeinschaft: Brita Maier-Broszeit erzählt: „Meine Arbeit gefällt mir sehr gut, weil sie äußerst vielfältig ist.“ Die Sozialarbeiterin ergänzt das Team mit ihrem professionellen Blickwinkel aus der Sozialen Arbeit. Sie ist auf einer 50%-Stelle unter anderem für die psychosozialen Hilfen der Menschen mit Behinderung, für den Aufbau des Ehrenamtes, für Antragstellungen, für Verhandlungen mit den Kostenträgern, für die Vernetzung des Wohnprojektes mit dem Stadtteil, für Einzelfallhilfen, Anfragen im Wohncafé und vieles mehr zuständig.

Sie ist von der Wohn- und Betreuungskonzeption ebenfalls überzeugt: „Die Menschen hier im Viertel werden gut versorgt. Durch die Förderung der Gemeinschaft wird der vorhandene Hilfebedarf erkannt, weil viel mehr Leute aufeinander achten.“

Auch die Geschäftsführerin und Hauptinitiatorin innerhalb des Fördervereins der Sozialstation Berg am Laim/ Trudering, Meike Wilski, zieht eine positive Bilanz: „Es ist ein Konzept mit Zukunft.“

Text: Ulrike Jocham, Dipl.-Ing. in Architektur und Heilerziehungspflegerin

Ein besonderes Arbeitsfeld – Fachartikel als pdf: Bielefelder Modell_München_Harlaching

Ein besonderes Arbeitsfeld: weitere Informationen zu inklusiven Wohnprojekten 

Achtung: Für dieses besondere Arbeitsfeld werden Universell designte Wohnungen benötigt –  Fachartikel von Ulrike Jocham zu diesem dringenden Bedarf

 

 

 

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