Nur bestimmte Schwellen werden noch wirklich gebraucht!

Das Bielefelder Modell

Cover von behinderte menschen Ausgabe 3-4/2007 mit Artikel über das Bielefelder Modell von Ulrike Jocham, die Frau Nullschwelle

Das Bielefelder Modell geht diesen Weg: Alt und Jung als Chance für die Inklusion von Menschen mit Behinderungen?

Dieser Artikel von Ulrike Jocham ist in BEHINDERTE MENSCHEN Ausgabe 3-4/2007 erschienen.

Im nordrhein-westfälischen Bielefeld ist durch eine fruchtbare Kooperation zwischen dem Verein Alt und Jung und der Bielefelder Gemeinnützigen Wohnungsgesellschaft (BGW) eine spannende Wohnalternative für Menschen mit und ohne Assistenzbedarf in inklusiven Siedlungsgemeinschaften entstanden. Die Wohn- und Betreuungskonzeption, bekannt unter dem Namen „Bielefelder Modell“, wird mittlerweile ins ganze Land getragen.

Das Konzept

Demoskopen, Gesundheitsexperten und Politiker aller Parteien lassen fast keine Gelegenheit aus, uns mit dem Thema und den Problemen der alternden Gesellschaft zu konfrontieren. Viele sehen ein sprunghaftes Ansteigen von Menschen mit Pflegebedarf voraus. Jedoch entstehen neben den ganzen zukünftigen Herausforderungen auch positive Aspekte. Zum einen lebte keine Generation im Schnitt so lange wie wir. Und zum anderen brauchen neue Aufgabenstellungen auch neue Lösungswege. Die Bielefelder haben eine innovative Alternative für das selbstbestimmte Wohnen von Senioren mit hoher sozialer Qualität entwickelt, die Betreuung von Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen ergänzt die Konzeption auf ungewöhnliche Weise.

In Siedlungsgemeinschaften, die zwischen ca. 20 und 50 Wohneinheiten groß sind, leben verschiedene Menschen unterschiedlicher Altersstufen in barrierefreien oder barrierearmen Mietwohnungen. Dabei sind alle Neubauten der BGW nach der DIN-Norm (Deutsches Institut für Normung) für Barrierefreiheit ausgestattet, Bestandsbauten werden speziell für die Wohnprojekte umgebaut. Die einzelnen Altbauwohnungen erreichen meist nur aufgrund der baulichen Gegebenheiten den Standart der Barrierearmut, steigern jedoch die Lebensqualität von Menschen mit Hilfebedarf beachtlich. Zu Beginn jedes Wohnprojektes ziehen etwa zwei Drittel der Mieterinnen und Mieter ohne Unterstützungsbedarf ein und ein Drittel mit Unterstützungsbedarf. Zusätzlich wird die soziale Mischung durch weitere Rahmenbedingungen unterstützt: im Mietangebot gibt es geförderte günstige Sozialwohnungen und frei finanzierte Wohnungen, die zum gängigen Mietpreis erhältlich sind. Allen steht eine 24-stündige Versorgungssicherheit durch professionelle pädagogische und pflegerische Fachkräfte zur Verfügung. In den üblichen betreuten Wohnanlagen für ältere Menschen wird in der Regel eine Betreuungspauschale von rund 100 € pro Monat erhoben, auch wenn die älteren Menschen noch keine Dienstleistung benötigen und nur aus Sicherheitsgründen in die Wohnform einziehen. Im „Bielefelder Modell“ kann die Versorgungssicherheit kostenneutral gehalten werden. Bei Erstbezug der Wohnungen räumt die BGW dem Pflegedienst als Kooperationspartner ein Vorschlagsrecht für fünf bis sechs Wohnungen ein, in denen Menschen mit einem erhöhten Hilfebedarf leben. Durch diese Einplanung kann der Dienstleister die ständige Versorgungssicherheit Tag und Nacht sicherstellen und finanzieren. Sobald mehr Assistenzbedarf in der Siedlungsgemeinschaft entsteht, werden entsprechend mehr Profis eingesetzt, sodass niemand einen Nachteil daraus zieht. Die Wahlfreiheit für die Inanspruchnahme eines anderen ambulanten Pflegedienstes bleibt hiervon unberührt. Die ständige Präsenz der Fachkräfte bewirkt auch eine Absicherung für die Nachbarn im Stadtteil und eine Förderung des sozialen Miteinanders im Wohnprojekt.

Soziale Kontakte

In jeder Siedlungsgemeinschaft befindet sich ein Wohncafe mit einer Gemeinschaftsküche, die von der BGW eingerichtet wird. Hier kann jeder der möchte am selbstorganisierten Frühstück, Mittagessen und Abendessen in Gemeinschaft teilnehmen. Außerdem bietet die Gemeinschaftsfläche Raum für Feste, Kurse und andere Gruppenaktivitäten. Haben Mieterinnen und Mieter Lust auf Kontakt, finden sie meist im Wohncafe genügend Ansprache. Diese Rahmenbedingung bieten unter anderem für Menschen mit geistigen und körperlichen Behinderungen ideale Voraussetzungen, um selbstbestimmt in der eigenen Wohnung leben zu können. Die tagesstrukturierenden Angebote im Wohncafe ermöglichen Menschen mit geistigen Behinderungen ein autonomes Leben, auch wenn bestimmte Fähigkeiten für die selbstständige Versorgung noch nicht genügend vorhanden sind, um in einer Wohnung allein zu leben. Menschen mit körperlichen Behinderungen wie beispielsweise MS-Erkrankte können auch bei sehr hohem Assistenzbedarf über ein eigene Reich verfügen und erhalten regelmäßigen Kontakt sowie Unterstützung unter anderem bei der Essenseinnahme im Wohncafe. Die Zubereitung der Mahlzeiten übernehmen oftmals Bewohnerinnen und Bewohner im Wohnprojekt ehrenamtlich, eine tolle Gelegenheit z.B. für Menschen in der Frührente eine sinnerfüllende Tätigkeit auszuüben. Alle Hilfeleistungen werden allerdings nie zum Zwang, falls jemand nicht mehr kann oder möchte, übernehmen die Fachkräfte die anfallenden Arbeiten. Die Freiwilligkeit stellt eine wichtige Voraussetzung für die Einbeziehung des Sorgepotentials aus der Gesellschaft dar. Natürlich unterstützen die Profis die Gemeinschaft von Menschen mit und ohne Assistenzbedarf enorm. Viele Menschen konnten aufgrund der häufigen Aussonderung nie in Kontakt mit Menschen mit Behinderungen treten und eventuelle Ängste erschweren ein positives Zusammenfinden. Die Profis können durch gezielte Gespräche Berührungsängste abbauen und auch Tipps bei eventuellen Unsicherheiten im Umgang geben.

Die interdisziplinären Teams

Beim Verein Alt und Jung arbeiten Fachkräfte aus den Bereichen Heilerziehungs-, Alten-, Krankenpflege, Jugendhilfe, Sozialarbeit, Pädagogik und Betriebswirtschaft freiberuflich zusammen in multiprofessionellen Teams. Die selbstständige Tätigkeit der Profis fördert bei den Menschen mit Assistenzbedarf das Gefühl, Kunde zu sein und selbst den eigenen Tagesrhythmus zu bestimmen. In Heimen passiert es oft, dass Bewohner sich dem Tageablauf der Einrichtung anpassen müssen. In den Siedlungsgemeinschaften sagen die Menschen mit Assistenzbedarf wie und von wem sie betreut werden möchten. Sind sie mit einem Dienstleister nicht zufrieden, steht ihnen die Wahl für einen anderen offen. Die Haltung „Der Kunde ist König“ erhöht die Qualität der Dienstleistung, genauso wie die Zusammenarbeit der unterschiedlich ausgebildeten Fachkräfte. Die HEPs (Heilerziehungspflegerinnen und –pfleger) unterstützen unter anderem die Integration von Menschen mit geistigen Behinderungen. Außerdem konnte beispielsweise verhindert werden, dass einer Mutter mit Hilfebedarf ihr Kind weggenommen und in eine betreute Jugendwohngruppe gegeben wird. Die HEPs übernehmen die nötige Betreuung für das Kind und unterstützen die Mutter bei ihrer Erziehungsaufgabe. Die Mutter erhält zusätzlich die Assistenz von Profis aus dem Bereich der Medizin. Nicht nur die Kunden fühlen sich wohl, auch die Fachkräfte sind zufrieden. Frau Ulla Regenit, Dipl.-Pädagogin und Familienpflegerin, erzählt: „Ich arbeite sehr gerne in so einem innovativen Rahmen, in dem wenn nötig auch Mal eine eins zu eins Betreuung ermöglicht wird und der Mensch im Mittelpunkt steht.“

Aktuelle Entwicklungen

Das „Bielefelder Modell“ hat sich bewährt, der Verein „Alt und Jung“ betreut aktuell 24 Wohnprojekte in Bielefeld, die BGW stellt für zwölf Wohnprojekte die Gebäude bereit. Auch andere Immobilienanbieter haben das Konzept übernommen und mehrere Pflegedienste sowie große Träger bieten ihre Dienstleistung mittlerweile auf diese Art und Weise an. In der Stadt Bielefeld nimmt die Zahl der leerstehenden Heimplätze zu. Aufgrund der hohen Kundennachfrage wachsen die ersten Ableger des Modells in mehreren deutschen Städten.

Projektbeispiel Heinrichstraße

Die Bilder zeigen die 2005 in unmittelbarer Zentrumsnähe entstandene Siedlungsgemeinschaft in der Heinrichstraße. In diesem Projekt ist das Ev. Johanneswerk, ein großer Träger der Alten-, Behinderten- und Jugendhilfe, das sich der zukunftsweisenden Wohn- und Betreuungskonzeption offen gegenüberstellt, Kooperationspartner der BGW. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vom Johanneswerk werden innerhalb einer Kooperation mit dem Verein Alt und Jung, die in diesem Sommer endet, in das Aufgabengebiet einer Siedlungsgemeinschaft eingearbeitet.

Vorgeschichte

Keimzelle der inklusiven Wohnprojekte war die Altenpflegerin Theresia Brechmann, die 1977 damit begann ältere Menschen in ihren Wohnungen zu betreuen. Der damals kleine Verein gründete bereits in den 80er Jahren in einem besetzten Haus eine Wohngemeinschaft, in der die betreuenden Fachkräfte mit Seniorinnen und Senioren sowie mit Menschen mit Behinderungen zusammen lebten. Mitte der 80er Jahre stieß der Verein auf Interessensüberschneidungen mit der BGW und ihrem Mitarbeiter, Werner Stede. In der daraus entstandenen dauerhaften Zusammenarbeit, wurde das kreative Wohnkonzept entwickelt. Ist interdisziplinäres Denken und Handeln mit Kreativität für die Zukunft nicht noch mehr gefragt, um Qualität in der Betreuung trotz knapp werdender Mittel zu bewahren?!

Text: Ulrike Jocham, die Frau Nullschwelle

Ulrike Jocham, die Frau Nullschwelle

 

 

Die Nullschwellen vom Bielefelder Modell, Blick von oben, Foto: Ulrike Jocham, die Frau Nullschwelle

Alle Balkon- und Terrassentüren, sowie alle Wohnungseingangstüren an den Laubengängen verfügen im Wohnprojekt in der Heinrichstraße über inklusive, demografietaugliche und sturzpräventive Nullschwellen. Foto: Ulrike Jocham, die Frau Nullschwelle

One Comment, RSS

  1. Vielen Dank für die Vorstellung des Projektes! Meine Schwester muss sich aktuell auch um Familienpflege für sie und unsere Mutter kümmern und freut sich nicht darauf, ihre Autonomie einzuschränken. Daher ist es interessant, dass man in so einem Projekt bestimmen kann, wie und von wem man betreut wird. Vielleicht gibt es ähnliche Konzepte bei uns in der Nähe, ich erkundige mich mal.

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